Fehlende Neutralität: Der Internationale Gerichtshof und der Nahostkonflikt
Inmitten des Krieges, der zwischen der islamistischen Hamas und dem Staat Israel tobt, macht eine Veröffentlichung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) Schlagzeilen.
Losgelöst vom Kampfgeschehen beratschlagten die 15 Richter des auch als Weltgericht bekannten höchsten juristischen Gremiums der Vereinten Nationen über die Frage, ob Israel die nach dem Präventivkrieg im Jahr 1967 eingenommenen Gebiete widerrechtlich besetzt hält und annektiert hat – also die sogenannte Westbank, außerdem Ostjerusalem, den Gazastreifen und die Golanhöhen.
Der libanesische Präsident des IGH, Nawaf Salam, verkündete, Israel müsse die Besatzung „so schnell wie möglich beenden.“
Wenig überraschend wurde die Einschätzung der Richter aus Den Haag in weiten Teilen der islamischen Welt gefeiert. Es sei ein „großartiger Tag für Palästina“, erklärte etwa die palästinensische Staatsministerin Warsen Aghabekian Schahin.
Indes ließ das türkische Außenamt bei X verlauten, die internationale Gemeinschaft sei nun verpflichtet, eine resolute Haltung einzunehmen „um den illegalen Praktiken Israels ein Ende zu setzen“.
Den vielen frohen Bekundungen stellte sich der israelische Premierminister Netanyahu entgegen, der bei X feststellte, dass das Jüdische Volk „kein Eroberer in seinem eigenen Land“ sei.
Auch in der Medienwelt blieb das Geschehen nicht unbeachtet.
„Urteil gegen israelische Siedlungspolitik“ lautete die Überschrift eines Beitrags des österreichischen Fernsehens, die den Ton vieler Medienberichte widerspiegelt. So plausibel der Titel klingt, so unzureichend ist er inhaltlich. Die im berühmten Den Haager Friedenspalast tagenden Richter stellten zwar fest, dass Israel Gebiete widerrechtlich besetzt halte und an die Palästinenser zurückzugeben habe – Reparationsaufforderung und Evakuierung der eigenen Bürger inklusive – dennoch fielen wichtige Details unter den Tisch.
So fällten die Richter um den libanesischen Vorsitzenden nicht etwa ein Urteil, sondern gaben lediglich eine nicht bindende Stellungnahme ab. Und selbst bei dieser mangelte es den fünfzehn Richtern an Einstimmigkeit.
Die aus Ghana stammende Vizepräsidentin des Gerichts, Julia Sebutinde, kritisierte in einer 36-seitigen Stellungnahme, dass das Gericht übersehen habe, dass es eine „existenzielle und sicherheitspolitische Bedrohung des jüdischen Volkes und des Staates Israel“ gäbe, die „von seinen Gegnern in der Nachbarschaft und darüber hinaus ausgeht.“
Anstatt nur die Frage nach dem juristischen Ist-Zustand zu beurteilen, wies Sebutinde auf die Tatsache hin, dass Israel immer wieder mit Überraschungsangriffen umzugehen hatte, „und zwar nicht nur als Vergeltung für die Besetzung palästinensischer Gebiete durch Israel.“ Auch in Bezug auf das Vokabular, das in Bezug auf den Jüdischen Staaten immer wieder große Begrifflichkeiten bemüht, stellt Richterin Sebutinde fest: "Israel ist kein Kolonialherr."
Die Richter Tomka (Slowakei), Abraham (Frankreich) und Aurescu (Rumänien) erklärten in einer gemeinsamen Stellungnahme, sie seien ihrerseits nicht davon überzeugt, dass „die fortgesetzte Anwesenheit Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten rechtswidrig“ sei. Ebenso wenig seien sie der Auffassung, dass Israel in der Konsequenz die Pflicht aufzuerlegen sei, die Anwesenheit in den besetzten palästinensischen Gebieten zu beenden.
Auffallend in der Stellungnahme aus Den Haag ist außerdem der Schlüsselbegriff der Besetzung. Diese definieren die Richter als Ausübung von tatsächlicher Kontrolle "durch einen Staat über ein fremdes Gebiet". Die Annahme der Richter wirft im Falle des Nahostkonflikts allerdings essenzielle Fragen auf.
Sind Juden im historischen Kernland ihrer Vorväter wirklich Fremde? Waren nicht schon vor rund dreitausend Jahren Judäa und Samaria jüdische Königreiche gewesen? Und hatten nicht Hebron und Jerusalem König David als Hauptstädte gedient, lange bevor es das Christentum und den Islam überhaupt gegeben hatte?
War es nicht Kalif Omar gewesen, der die heilige Stadt erst im Jahr 638 n. Chr. erstmals unterworfen hatte? Also rund anderthalb Jahrtausende, nachdem das Gebiet jüdische Königreiche beheimatet hatte und mehr als fünfhundert Jahre, nachdem in Jerusalem der zweite jüdische Tempel von den Römern zerstört worden war?
Diese für eine Bewertung essenziellen Fragen blendeten viele der renommierten Richter im Den Haager Friedenspalast zugunsten ihrer politischen Auffassung aus.
Wie sonst lässt sich erklären, dass sie die Evakuierung (also de facto Vertreibung) der Juden aus ihrem Kernland damit rechtfertigen, dass Juden dem Land fremd seien, in dem sie seit dreitausend Jahren eine ununterbrochene Präsenz aufweisen und aus dem sie abstammen?
Andrew Tucker, Experte für Internationales Recht und Direktor der Den Haager Initiative für Internationale Kooperation (thinc), kommentierte die Einschätzung der Richter als "völlig absurd und unpraktisch", weil sie die historische Tatsache ignoriere, dass "Juden seit Jahrtausenden in Jerusalem, Judäa und Samaria leben.“
Eine weitere Schwachstelle in der richterlichen Beurteilung zeigt sich darin, dass die Den Haager Einordnung auf Schlüsselelemente des Internationalen Völkergewohnheitsrechts nicht einging.
Um Konflikte bei der Entstehung neuer Staaten zu begrenzen, etablierte sich im 19. und 20. Jahrhundert das sogenannte Uti Possidetis-Prinzip. Im Kern besagt es, dass bei der Dekolonisierung und Neugründung von Staaten Grenzveränderungen nicht vorgenommen werden sollen.
Zwar ist gemeinhin bekannt, dass imperialistische Reiche vereinnahmtes Land mit Lineal und Stift unter sich aufteilten, ohne dabei Rücksicht auf ethnische oder religiöse Befindlichkeiten zu nehmen, aber dennoch fordert das häufig angewendete Prinzip, die ehemaligen Grenzen auch bei erfolgreicher Unabhängigkeit beizubehalten. Nur auf diese Weise hege man einen Dominoeffekt ein, der eintreten könnte, wenn man Grenzen nach einer Loslösung aus der Abhängigkeit neu verhandeln würde.
In ihrer weithin beachteten Stellungnahme wichen die Richter unter dem Vorsitz von Nawaf Salam der Frage gänzlich aus, warum Uti Possidetis Juris im Falle Israels nicht zur Anwendung gekommen war, wo es doch in Lateinamerika, in Afrika, aber auch in Osteuropa erfolgreiche Anwendung gefunden hatte. Die Richter blieben eine Antwort schuldig, die Auskunft darüber hätte geben können, was eine Anwendung des völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Prinzips realpolitisch bedeuten würde – und ob Israel überhaupt als Besatzungsmacht angesehen werden kann.
Unter Anwendung von Uti Possidetis Juris hätten die Richter in Erwägung ziehen müssen, ob der Staat Israel ein völkergewohnheitsrechtliches Anrecht auf das gesamte verbliebene Mandatsgebiet Palästina des Jahres 1922 gehabt hätte – nachdem man zuvor den weitaus größeren Teil des Mandatsgebiets bereits als arabischen Staat Transjordanien abgespalten hatte.
Wendet man in Sachen Israel und Palästina, wie in so vielen anderen Regionen auch, Uti Possidetis Juris an, so kann man einzig die Golanhöhen als von Israel besetzt bezeichnen, die bis zum Präventivkrieg im Jahr 1967 unter syrischer Herrschaft gestanden hatten. Auf ganz Jerusalem, außerdem die Westbank und Gaza hätte der Staat Israel unter Anwendung des Uti Possidetis-Prinzips strenggenommen Anspruch – was im Umkehrschluss Anschuldigungen einer israelischen Besatzung bedeutungslos rendern würde.
Anstatt sich aber mit dieser juristisch komplexen wie für das Internationale Recht zentralen Fragestellung auseinanderzusetzen, fokussierten sich die Richter in Den Haag in Sachen Grenzziehung einerseits auf den sogenannten UN-Teilungsplan aus dem Jahr 1947 – der allerdings nur das Produkt einer nicht bindenden Resolution der UN-Generalversammlung darstellt – und andererseits auf den im Jahr 1967 geführten Präventivkrieg Israels, der die Region neu strukturierte und der Grenzen militärisch verschob.
Kritikwürdig allerdings sind nicht nur die juristischen Einschätzungen und Auslassungen des IGH, sondern ist auch dessen Zusammensetzung selbst.
Israel stellt keinen Richter, wohingegen Nationen mit dezidiert antiisraelischer (und häufig menschenrechtsfeindlicher) Haltung – wie Südafrika, Sudan, Libanon, Brasilien oder China – jeweils mit einem Richter im 15-köpfigen Gremium vertreten sind.
Nawaf Salam, der dem Gericht in Den Haag für drei Jahre vorsitzt, stammt aus dem Libanon – also aus einem Land, das den Jüdischen Staat bereits im Jahr 1948 nach dessen erklärter Unabhängigkeit militärisch angriff und das sich seither mit Israel formal im Kriegszustand befindet.
Seit dem Massaker der islamistischen Hamas im Süden Israels wird auch der Norden des Landes von libanesischem Territorium tagtäglich mit Raketen und Granaten beschossen, was zur Evakuierung Zehntausender geführt hat.
Dass Salam aus dem Libanon stammt, mag bei der Bewertung über den verfeindeten Nachbarn durchaus problematisch sein, allerdings belegt es nicht etwaige politische Ambitionen oder gar eine Voreingenommenheit des Vorsitzenden des IGH.
Was die politische Voreingenommenheit jedoch nahelegt, ist Salams Vergangenheit als Diplomat bei den Vereinten Nationen, wo er von 2007 bis 2017 den Libanon und dessen Interessen als Botschafter vertrat.
In dieser Position ließ sich der Vorsitzende eines Gremiums, das sich der Überparteilichkeit verschrieben hat, zu nicht weniger als 210 Verurteilungen des Jüdischen Staates hinreißen.
Auch in seinen Reden fiel der heutige Richter immer wieder mit starken Verurteilungen Israels auf, immer wieder unter Zuhilfenahme eines besonders stark polarisierenden Vokabulars. Jüdische Flüchtlinge betitelte er in abfälliger Form als "Zionisten", die israelische Regierung nannte er "die höchste zionistische Führung".
In seinen Reden ging Salam immer wieder auf die arabischen Flüchtlinge ein, die ihr Land verlassen hatten, nachdem mehrere arabische Armeen Israel nach dessen Staatsgründung überfallen hatten, jedoch zurückgeschlagen worden waren. Dabei bediente sich Salam auch des Ausdrucks der "ethnischen Säuberung", die er dem Jüdischen Staat vorwarf. Auf die hunderttausenden jüdischen Flüchtlinge, die aus ihrer arabischen und persischen Heimat vertrieben worden waren, ging Salam in seinen auf Arabisch gehaltenen Reden ebenso wenig ein wie auf Terrororganisationen wie Hamas, Palästinensisch Islamischer Dschihad oder die in seinem eigenen Land dominierende und vom Iran finanzierte Terrormiliz Hisbollah – stets schien nur der Jüdische Staat in Salams Augen Schuld zu tragen und fehl am Platz zu sein.
Im März 2015 ließ sich der heute als überparteilich in Erscheinung tretende Präsident des höchsten Gerichts der UN auf Twitter dazu hinreißen, Israel als "Triumph der unverhohlenen rassistischen & kolonialistischen Entscheidungen" zu betiteln.
Und rund ein Jahr später schrieb der damalige Vertreter des Libanon: "Genau an diesem Tag vor zehn Jahren begann Israel einen 33-tägigen Krieg gegen mein Land (...)", und ließ die Tatsache außen vor, dass es die Terrormiliz und de facto Armee Hisbollah gewesen war, die vor Kriegsausbruch zwei israelische Soldaten entführt und damit einen die Kämpfe provoziert hatte.
UN Watch, eine Nichtregierungsorganisation, die Beschlüsse und Praktiken der Vereinten Nationen kritisch untersucht, listet in einem kürzlich veröffentlichten Dossier das Abstimmungsverhalten Salams in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen auf.
So stimmte der Vertreter des Libanon 11 Mal gegen Resolutionen, die die Menschenrechtsverletzungen der Islamischen Republik Iran kritisiert hätten. Der heutige Vorsitzende des Internationalen Gerichtshofs hielt seine Hand allerdings nicht nur schützend über Iran, sondern nahm auch Bashar al-Assad in Schutz, den syrischen Machthaber, an dessen Händen das Blut von Hunderttausenden klebt. So blockierte er, gemeinsam mit den Vertretern Russlands und Chinas, eine tagelang verhandelte gemeinsame Presseerklärung des UN-Sicherheitsrats, die die Gewalt an der Zivilbevölkerung verurteilt hätte.
Auch in anderen Beschlusssachen stellte Salam sich konsequent an die Seite von Nationen, die nicht für ihre hohen Menschenrechtsstandards bekannt sind.
Im Falle eines Dokuments, das die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 2007 verabschiedete, um die politischen Missstände in Belarus in Bezug auf die vorangegangenen Wahlen zu verurteilen, nutzte Salam seine Stimme, um die Forderung nach liberalen Grundrechten einzuhegen. Damit schloss er sich einer kleinen Gruppe an Ländern an, die die Verurteilung ebenfalls ablehnten, darunter China, Iran, Kuba, Nordkorea, Russland, Somalia und Syrien.
Auch den kubanischen Herrscher Fidel Castro, unter dessen Führung der kubanischen Bevölkerung nicht nur grundlegende Rechte vorenthalten wurden, sondern unter dessen Ägide Tausende exekutiert und inhaftiert wurden, lobte der heute über Menschenrechtsfragen richtende Jurist bei Twitter als "Ikone der Rebellion & des Widerstands & der letzte einer Generation von überragenden Weltführern."
Ein an Menschenrechten und Überparteilichkeit interessierter Richter und Vorsitzender des höchsten Gericht des Vereinten Nationen sieht anders aus.
Zuletzt hatte Südafrika, das Verbindungen zur Terrororganisation Hamas unterhält, Israel wegen Genozids vor den Internationalen Gerichtshof gebracht.
Israel weist die Vorwürfe zurück und betitelt die wiederkehrenden Versuche, den Jüdischen Staat zu ächten, als „Lawfare“ (Zusammensetzung der Worte „Law“ und „Warfare“).
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