Causa Aiwanger: Politische Intrige oder legitime Kritik?
Der Fall Aiwanger bewegt die Bundesrepublik. Nachrichten und Kommentarspalten quellen über vor Forderungen. Die meisten Vertreter der etablierten Leitmedien verlangen den sofortigen Rücktritt, während auf der Gegenseite häufig von verjährten Jugendsünden die Rede ist, die jetzt aufzuarbeiten und zu bestrafen einen Bruch mit Recht und Gesetz darstellen würde.
Welche Seite ist im Recht?
Tagespolitik ist nicht jedermanns Metier. Aufmerksamkeitshascherei und Emotionen ersetzen da häufig objektive Wahrheiten. Außerdem bleiben die oft bedingt informativen Neuigkeiten im Mantel des Qualitätsjournalismus nur selten haften oder machen am Ende einen spürbaren Unterschied.
Stattdessen geht es in der tagespolitischen Berichterstattung nicht selten darum, kurzfristig zu schockieren und dadurch eine hohe Auflage oder viele Klicks zu erzielen und so die Querelen in den Parlamenten des Landes zu monetarisieren.
Die Causa Aiwanger – obwohl eigentlich Tagesgeschehen – hat dennoch das Zeug dazu, in Erinnerung zu bleiben und zu einer der prägenden Debatten des Jahres 2023 zu werden.
Das liegt nicht daran, dass die Herrn Aiwanger zur Last gelegten Vorwürfe einmalig oder beispiellos sind. Auch nicht daran, dass die Freiheit im Land mit dem Schicksal des umstrittenen bayerischen Politikers steht oder fällt.
Dem Skandal wohnt Brisanz inne, weil er grundsätzliche Fragestellungen aufwirft, die jeden einzelnen im Land, ebenso wie das Handeln des Polit- und Medienbetriebs direkt betreffen.
Die Frage steht im Raum: darf Herr Aiwanger ein hohes politisches Amt im Land bekleiden, nachdem ihm seit Kurzem das Verfassen eines rechtsradikalen Pamphlets angelastet wird – was dieser übrigens bestreitet – ebenso wie das Zeigen des Hitlergrußes?
Dürfen Jugendsünden verziehen werden?
Und wenn das so ist, wer entscheidet am Ende darüber, was als Jugendsünde gilt?
Die rechtliche Frage
Grundsätzlich bedarf es keiner großen intellektuellen Fähigkeit, um die Lage aus juristischer Sicht einzuordnen: Natürlich darf Herr Aiwanger sein aktuelles politisches Amt bekleiden und auch nach einer Wiederwahl streben. Denn in der Bundesrepublik Deutschland herrschen Recht und Gesetz. Auch dann, wenn Gefühle hochkochen. Auch dann, wenn Herr Aiwanger einigen zuwider ist.
Außerdem sind Recht und Gesetz unparteiisch veranlagt. Sie kennen Institutionen wie Gerichte ebenso wie Zustände der Anklage, des Freispruchs und der Verurteilung. Ebenso kennen Recht und Gesetz auch die Verjährung.
Kurzum: juristisch gesprochen ist Herrn Aiwanger – der als Jugendlicher ein ausgeprägt menschenfeindliches Weltbild im Kopf gehabt haben soll – ein hohes Amt aufgrund seines früheren Verhaltens nicht zu verwehren.
So will es das Grundgesetz. Und so will es auch die liberale Demokratie, die justiziabel nicht belegbare oder aber bereits verjährte (und entsprechend nicht sanktionierbare) Vorwürfe nicht in Urteile und Verbote umwandelt. Sich dem sogar aktiv in den Weg stellt.
Diese einfache Erkenntnis ernstzunehmen bedeutet, sich selbst auf dem Boden des freiheitlich ausgerichteten Grundgesetzes zu bewegen.
Im liberal-demokratischen Rechtsstaat bewertet demnach die blinde Justitia etwaige Vorwürfe. Nicht aber fällen eifrige und oft von eigenen politischen Idealen getriebene Journalisten, Intellektuelle oder Politiker Urteile im Namen des Volkes und entscheiden für dieses über die Zusammensetzung von Parlamenten und Regierungen.
Die Entscheidung über die Zusammensetzung von Landesregierungen obliegt allein dem Wahlvolk, ebenso wie den von der Verfassung und den Folgegesetzen vorbestimmten Organen (z.B. Wahlleiter, Gerichte, et cetera).
Wem es in der Causa Aiwanger also um die Frage des Rechts geht, dem wird schnell klar, dass ein erzwungener Rücktritt – oder aber ein mögliches Verbot einer erneuten Kandidatur – nicht rechtsstaatlich, ja sogar im Kern antidemokratisch und freiheitsfeindlich wäre.
Genau deshalb ist der Skandal auch keiner mit juristischem Charakter. Was auch immer der bayerische Politiker als Jugendlicher geschrieben oder gemacht haben soll – juristisch ist die Sache heute zu den Akten zu legen (solange er niemanden getötet hat, was ihm selbst die Süddeutsche Zeitung bisher nicht nachzusagen vermag).
Was sind eigentlich Jugendsünden?
Die, die Aiwanger anklagen, scheinen erpicht darauf, die zynisch-menschenverachtenden Worte und Gesten – für die der bayerische Politiker laut den Vorwürfen verantwortlich sein soll – mit aller Vehemenz auf den Tisch der öffentlichen Debatte bringen zu wollen. Auch dann, wenn gerade Wahlen anstehen. Sogar gerade dann. Denn man scheint unter den Anklägern die Möglichkeit zu riechen, mit den Beschuldigungen Einfluss auf die Wahl nehmen zu können. Von der Unschuldsvermutung scheinen viele indes nicht gehört zu haben. Ebenso wenig von Verjährung.
Die Gegenseite, die Aiwanger verteidigt, scheint indes sicher, dass die vielen Vorwürfe im Kern nur eine Jugendsünde beschreiben. Zu diesem Schluss gelangen auch sie, ohne, dass die Vorwürfe überhaupt bewiesen, oder aber als falsch entlarvt werden konnten. Nach dem Motto: in jungen Jahren hat sich doch jeder etwas zuschulden kommen lassen. Der eine trank heimlich mit den Freunden einen Schnaps, der andere fackelte, des Nervenkitzels wegen, einen Heuballen des benachbarten Bauern ab. Und wieder ein anderer verfasste eben Schriften mit Volksverhetzungscharakter. Macht doch am Ende keinen großen Unterschied. Alles nur Jugendsünden. Schwamm drüber.
Ethik vs. Justiz
Bevor man austeilt, bevor man fordert, bevor man also anklagt oder verteidigt, wäre es durchaus sinnvoll, die Debatte zu nutzen, um grundlegende Begrifflichkeiten und Fragestellungen zu definieren – und nach Antworten zu streben. Welche Jugendsünde kann im Zweifelsfall auch verziehen werden – und welche richtet einen Schaden an, der persönliche Ablehnung auch Jahre später noch rechtfertigt?
Die Frage ist komplex und nur subjektiv zu beantworten. All die, die das Gegenteil behaupten und die "Wahrheit" auf ihrer Seite wähnen, verwechseln juristische mit ethischen Bewertungen.
Denn wo man juristisch dankenswerterweise einen eingeschränkten Spielraum hat und in fast jedem Fall zu klaren Ergebnissen gelangen kann – Gesetze versuchen möglichst konkret Tatbestände von zu duldendem Verhalten zu unterscheiden – sind die Gedanken und ist das Gewissen unabhängig und dreht sich im Zweifelsfall in ethischen Fragen auch mal im Kreis. Oder gelangt zu einem Dutzend unterschiedlicher Antworten, die alle aus einem bestimmten Blickwinkel ihre Berechtigung haben können.
"Ethische Schuld" ist deshalb immer von "juristischer Schuld" – die übrigens vor Fehlerhaftigkeit ebenfalls nicht gefeit ist – zu unterscheiden. Gerade auch in der emotionalisierten politischen Debatte.
Begrifflichkeiten definieren
Fragt man die zwar nicht überparteiliche, aber wenigstens allzeit gut erreichbare KI, dann definiert diese den scheinbar alles entscheidenden Begriff der Jugendsünde so: „Das Wort bezieht sich in der Regel auf Fehler, Vergehen oder unangemessenes Verhalten, die eine Person in ihrer Jugend begangen hat. Diese Handlungen werden oft im Nachhinein als unklug, unverantwortlich oder moralisch fragwürdig betrachtet.“
Man könnte also schlussfolgern, dass – wie es Herrn Aiwanger zur Last gelegt wird – menschenverachtende Ausdrucksweisen in ebendiese Kategorie fallen. Fallen können. Exakt definiert auch die hochgelobte künstliche Intelligenz den eher schwammigen Begriff nicht, den jeder nach Gutdünken selbst auslegen kann.
Aber die KI geht in dem Versuch, Klarheit zu schaffen, noch weiter. So setzt sie voraus, dass „die betreffende Person später im Leben daraus (aus ihren Fehlern) gelernt und sich entwickelt hat.“
Die einen erachten es als maßgeblich, einen Politiker nur nach dessen Handeln zu bewerten. Das ist ein pragmatischer und manchmal nicht unkluger Ansatz.
Die anderen – mit derselben Legitimität – empfinden es im demokratischen Prozess als maßgeblich, neben den politischen auch die menschlichen Aspekte ihrer Vertreter in Parlamenten und Regierungen zu bewerten.
Für die zweitere Gruppe ist es daher wichtig, herauszufinden, ob Herr Aiwanger – so die hässlichen Worte auf ihn zurückgehen – aus seinen Jugendsünden gelernt und sich entwickelt hat.
Aber wie macht man das?
Auf den ersten Blick ist für einen Nichtbiografen nur äußerst schwer ersichtlich, wie Hubert Aiwangers Innenleben heute aussieht.
Bekannt ist mir nicht, ob der von der künstlichen Intelligenz angemahnte Lernprozess beim bayerischen Spitzenpolitiker der Freien Wähler so weit reichte, dass er für die potenziell aus seiner Feder stammende Hetzschrift vielleicht sogar nach Wiedergutmachung strebte.
Auch bin ich im Unklaren darüber, ob sich der umstrittene Politiker in der Vergangenheit beispielsweise als Freiwilliger bei Aktion Sühnezeichen bemühte. Oder aber, inwieweit er im Laufe seiner politischen Karriere Zeit und Kraft aufwand, um jüdisches Leben in Deutschland vor Attacken von Rechtsradikalen, Linksradikalen und vor Übergriffen durch Islamisten zu schützen. Als wäre das nicht genug, fehlen mir obendrein Informationen darüber, ob Herr Aiwanger sich für eine Ausweitung der Deutsch-Israelischen Verhältnisse eingesetzt hat, was ebenfalls als positives Zeichen eines Sinneswandels hätte gewertet werden können.
Bei all den offenen Fragen ist die Eindeutigkeit, mit der beide Seiten auf ihre Auslegung der Geschehnisse rund um die Causa Aiwanger pochen, besorgniserregend.
Nicht nur, weil sich viele bereits vor einer etwaigen und auf Beweise gestützten Anschuldigung festlegen – alles nur eine verzeihbare Jugendsünde versus eine schlimme Tat, auf die ein Rücktritt die einzig legitime Antwort sein kann – sondern auch, weil ethische Urteile, die subjektiv sind, immer wieder viel zu schnell zu politischen erklärt werden. Und das, obwohl es in einem Fall wie dem des Herrn Aiwanger aus ethischer Sicht kein einfaches „Richtig“ oder „Falsch“ gibt.
Judenhass: nur ein politisches Mittel zum Zweck?
Dass der Hass auf Juden in Deutschland sich nicht auf Pamphlete von bayerischen Schülern aus den 80er-Jahren beschränkt, ist indes traurige Realität und gefährlicher Alltag.
Über Jahrzehnte kam und kommt es wiederholt zu Gewalttaten gegen Juden.
Dabei geben sich die extreme Rechte, die extreme Linke und die Vertreter einer radikalen Auslegung des Islam die Klinke in die Hand.
Befinden sich israelische Zivilisten im Raketenhagel, dann will niemand von Judenhass sprechen. Beide Seiten sollen doch bitte deeskalieren, hört man dann regelmäßig aus Berlin. Nicht einmal, wenn Migranten und deutsche Staatsangehörige muslimischen Glaubens schlimmste Schlachtrufe gegen deutsche Juden auf offener Straße brüllen, will man von einem generellen Problem mit Antisemitismus sprechen.
Verstecken Menschen aus Angst vor bereits erfolgten Übergriffen immer häufiger die Symbole, die sie als Juden ausweisen, etwa die Kippa oder den Davidstern, dann will man darüber ebenfalls nicht sprechen. Sicher ist man sich nur, dass im fortschrittlichen und aufgeklärten und modernen Deutschland Antisemitismus selbstverständlich keinen Platz in der Gesellschaft hat. Meist allerdings entpuppen sich derlei Phrasen am Ende als inhaltsarme Plattitüden. Keinem Juden ist damit praktisch geholfen.
Wird an einem deutschen Flughafen einem israelischen Staatsbürger das Boarding mit Kuwait Airways verwehrt, dann ist das natürlich tragisch. Das wissen auch Politiker und Gerichte. Dennoch entscheidet man im Zweifelsfall, dass der Jude dann eben zurückbleiben muss – man könne ja nichts an der Gesetzeslage im Ausland ändern. Der Airline stattdessen den Betrieb untersagen, wie manch anderes Land es tut, wenn Bürger selektiert werden? Nein, nicht in Deutschland.
Allerdings geht es auch alltäglicher: bis heute würde keine Synagoge, kein jüdischer Kindergarten und keine jüdische Schule ohne Sicherheitsschleuse oder schwer bewaffnete Polizeikontrolle mittelfristig nicht wahlweise abbrennen, gestürmt oder anderweitig geschändet werden. Die Dauerbedrohungslage, die Juden in Deutschland erdulden müssen, ist Alltag. Mit einem weitverbreiteten Problem mit Antisemitismus hat das natürlich nichts zu tun.
Antisemitismus gilt es also an vielen Fronten zu bekämpfen. Denn er ist im Deutschland des 21. Jahrhunderts hoffähig. Geschafft haben das rechtsextreme Verschwörungstheoretiker ebenso wie linke Antizionisten, außerdem etliche islamistische Hassprediger gleichermaßen.
Der Kampf gegen Antisemitismus, so meint man, gleicht in Deutschland heute an vielen Stellen einem Kult. So werden bedächtig Gedenkfeiern zugunsten der von den Nationalsozialisten ermordeten Juden abgehalten. Es wird geschwiegen. Es wird musiziert. Es wird gelesen. Vereinzelt wird auch eine Träne vergossen. Stolpersteine werden in typisch deutscher Manier blitzblank geputzt und eine Schule nach der anderen wird nach Widerstandskämpfern benannt (von denen die meisten sich übrigens nicht groß um den Holocaust scherten).
Das ist Deutschlands Kampf gegen Antisemitismus im 21. Jahrhundert.
Man bekämpft fleißig – mit Geld, Zeit, Personal und Eifer – ein bereits untergegangenes Reich. Bei aller Sympathie, denn natürlich sind Gedenken und ist historische Mahnung wichtig, ist dieser Kampf jedoch kein mutiger. Und vielerorts nicht einmal ein ehrlicher. Denn das Leid und die Sorgen von heute lebenden Juden – ob in Deutschland, Frankreich, Schweden oder in Israel – beschäftigt die hiesige Politik und Medienlandschaft meist nicht im Geringsten.
Wo Antisemitismus sich ausbreitet, Politiker und Meinungsmacher jedoch häufig lieber wegschauen oder sogar eine Täter-Opfer-Umkehr praktizieren, da wirkt es fast unweigerlich auf manchen Beobachter, als dienten ermordete Juden in Deutschland als Werkzeug der Selbstbeweihräucherung. Als Mittel, um sich als guter, lernfähiger Deutscher zu stilisieren, der auf der richtigen Seite steht. Denn sich für tote Juden einzusetzen, ist natürlich leichter und geht mit weniger Widerspruch einher, als die heute lebenden und deren Ängste und Probleme ehrlich wahrzunehmen.
Wo aber wird – wenn man nicht gerade mutig wie ein Widerstandskämpfer gegen bereits untergegangene Reiche auf die Straße geht – aktiv gegen Antisemitismus gekämpft?
Zumindest nicht per se dort, wo es wirklich um Juden geht. Stattdessen oftmals eher da, wo es einem politisch gelegen kommt.
Konfrontiert man die eifrigen Verteidiger Aiwangers mit Jugendsünden der Gegenseite – der Fall Nemi El-Hassan ist dafür ein nicht lange zurückliegendes Beispiel – dann sind die Reaktionen überwiegend einhellig: Man sähe es kritisch, die links-islamistische Ärztin und Journalistin mit einer führenden Position in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten zu bedenken, die ihren Hass auf Juden in jungen Jahren unverhohlen nach außen trug. Antisemitische Jugendsünde: nicht vergeben.
El-Hassans progressive Verteidiger jedoch wollten vergeben. Und weitermachen. Zum Ausdruck brachte das Jochen Bittner, der das Streit-Ressort von Die Zeit leitet. In einem Kommentar gab er zu bedenken, er wolle „nicht in einem Land leben, in dem jemandem Fehler aus jungen Jahren ein Leben lang vorgehalten werden.“
Damit brachte Bittner die Position vieler linksliberaler Politiker und Intellektueller auf den Punkt. Antisemitische Jugendsünde: vergeben.
Im Falle Aiwanger aber drehen beide Seiten den Spieß schamlos um. Wer glaubt, dass es in Antisemitismus-Fragen um Juden ginge, dem beweist der flinke Meinungsumschwung vieler Kommentatoren das Gegenteil.
Die, die El-Hassan den Hass auf Juden nicht als Jugendsünde durchgehen lassen und sie aufgrund ihrer Vergangenheit von den öffentlich-rechtlichen Sendehäusern fernhalten wollten, stilisieren sich jetzt in der Causa Aiwanger als hingebungsvolle Freunde der Vergebung, als wäre ihnen Jesus Christus höchstpersönlich über den Weg gelaufen.
Und die, die El-Hassans Abneigung gegenüber Juden noch vor kurzer Zeit als Jugendsünde verharmlosten, sie entschuldigten, die darauf hinwiesen, man müsse über derlei Äußerungen auch hinwegkommen können, sehen im umstrittenen bayerischen Politiker Aiwanger nun einen Mann, dessen lange zurückliegende Worte ihn noch heute disqualifizieren. Vergebung ausgeschlossen.
Es scheint, als sei der Hass auf Juden in Deutschland zum politischen Werkzeug mutiert.
Dort, wo es einem passt, ist Hass auf Juden verzeihbar. Und dort, wo der Hass vom Gegner in die Welt gesetzt wurde, folgt ein gellender Aufschrei und der Ruf nach Konsequenzen.
Es ist ein Trauerspiel, an dem beide Seiten beteiligt sind. Ein Trauerspiel, in dem Juden nicht als Menschen, sondern nur als politische Trumpfkarte Beachtung finden.
Ein Urteil sprechen
Man mag in der Causa Aiwanger am Ende zu welchem Urteil auch immer gelangen.
Ich persönlich, als liberaler Verteidiger von Rechtsstaatlichkeit, sehe es als essenziell und für eine freie Demokratie überlebenswichtig an, sich an die Spielregeln zu halten. Auch dann, wenn es schwerfällt.
Deshalb gilt es, zuallererst anzuerkennen, dass im Falle des bayerischen Politikers Beweise nicht erbracht wurden und viele Anschuldigungen ausschließlich auf Hörensagen beruhen. Des Weiteren liegen die widerlichen Äußerungen und Symbole, die Aiwanger schriftlich und körperlich geäußert haben könnte, lange Jahre zurück und sind juristisch als verjährt anzusehen.
Dennoch – sollten die Vorwürfe wahr sein – dann disqualifizieren sie einen Herrn Aiwanger. Zwar nicht juristisch. Aber dennoch menschlich.
Nicht auf eine Weise, die ihm mit Mitteln der Justiz die Kandidatur um ein demokratisches Amt strittig machen möchte, die ihn mit aller Medienmacht zu entfernen sucht, sondern auf ethischer Basis: Wer sich als nahezu volljähriger Gymnasiast die Zeit nimmt, fein säuberlich einen Text aufzusetzen und ihn wieder und wieder in Ruhe und mit Bedacht zu drucken, eine Schmähschrift, in der von einem „Freiflug durch den Schornstein von Auschwitz“ ebenso die Rede ist wie von einem „lebenslänglichen Aufenthalt im Massengrab“ und von „Genickschuss“ wie „Kopfamputation“, der entlarvt mehr als nur einen Mangel an menschlichem Einfühlungsvermögen. Vom kruden Elternhaus ganz zu schweigen, für das ein Heranwachsender nicht zur Verantwortung gezogen werden kann. Für seine Taten allerdings schon.
Sollte es Herrn Aiwanger deshalb erfolgreich nachgewiesen werden, dass er den widerlichen Text nicht nur selbst niederschrieb, sondern auch noch zeitaufwendig duplizierte und verbreitete, dann kann und will ich das nicht als Jugendsünde abtun. Mit heimlich gerauchten Zigaretten, mit einem hässlichen Tattoo oder einer dummen Aussage hat diese akribisch vorbereitete und durchgeführte Aktion nichts zu tun. Und schon gar nicht will ich, subjektiv, so etwas als Jugendsünde durchgehen lassen, wenn darauf keine Wiedergutmachung folgte.
Als Verfechter der liberalen Demokratie spreche ich nicht nur einem auch potenziell verantwortlichen Herrn Aiwanger das Recht zu, sich um Ämter zu bewerben und sie auch bekleiden zu dürfen – dennoch sehe ich es nicht als Untergrabung seiner Rechte oder gar als Beschneidung der politischen Freiheit in Deutschland an, wenn ich ganz persönlich einem Mann meine Stimme vorenthalte oder gegen ihn protestiere, dessen Handeln ich mit aller Vehemenz ablehne.
Natürlich gilt es, das Alter Aiwangers zum Zeitpunkt der möglichen Niederschrift nicht zu vergessen. Gerade auch, weil es nicht klug wäre, einen Mann, der in seiner politischen Laufbahn keine Konzentrationslager gefordert, sondern der selbst eher pragmatische Politik befürwortet hat, jetzt auf ewig durchs Dorf zu treiben, bis er nicht mehr kann und sich den Medien unterwirft. Täte man das, dann würde man potenziell unsichere Anhänger extremer Ideologien nicht gerade zum Ausstieg ermuntern. Denn was lohnt sich schon der Sinneswandel, wenn man am Ende doch aus der Nummer nie wieder herauskommt?
Wer Herrn Aiwanger schuldig spricht – nachdem Beweise vorgebracht wurden – der darf Antisemitismus von anderer Seite aber nicht herunterspielen, wie im Fall El-Hassan allerdings geschehen.
Wer das tut, der entlarvt nämlich sein geringes Interesse am geäußerten Hass. So jemand zeigt sich als Akteur, dem Juden nur dann in den Kram passen, wenn sie ihm als Mittel zum Zweck dienen.
Wo menschliche und politische Ablehnung keine Freiheitsbeschränkung Aiwangers darstellt, so ist dennoch eine Kritik aus dem Mitte-Rechts-Lager zutreffend: die Rede ist von der unehrlichen Doppelmoral der Berichterstattung.
Der tendenziöse Beigeschmack entsteht fast zwangsläufig, wenn kurz vor wichtigen Wahlen schlimmste Anschuldigungen gegen einen Politiker in vorgeblich seriösen Zeitungen erhoben werden – ohne aber Beweise vorzulegen. Speziell auch, da bekannt ist, dass viele der großen links-progressiven Redaktionen Politikern wie Herrn Aiwanger generell nicht nahestehen, sondern Menschen wie ihn generell besonders kritisch beäugen.
Aus dem schalen Beigeschmack wird dann eine Geschmacksexplosion, wenn zeitgleich Vorwürfe am politischen Freund nicht mit demselben Elan geahndet werden.
Dabei braucht man nicht erst an die desaströse Pädophilie-Debatte der Grünen oder an die blutige Geschichte der Linkspartei zu erinnern, die nur wahrlich selten Thema sind, obwohl eine Aufarbeitung wichtig und längst überfällig wäre.
Es sind auch ganz aktuelle Fälle, die gerne von denen unter den Teppich gekehrt werden, die bei Herrn Aiwanger erregt die Fahnen schwenken und menschliches Versagen anklagen und bestraft sehen wollen. So ist etwa der brandaktuelle Fall des Stadtoberhaupts von Hamm, Marc Herter (SPD), den meisten bisher völlig unbekannt. Dieser scheint selbst engste Kontakte zu türkischen Ultra-Nationalisten zu pflegen, also zu Leugnern eines Genozids an den Armeniern. Zu solchen, die die Welt rassistisch aufgeteilt sehen wollen. Die den Aufstieg eines türkischen Reiches herbeisehnen und die politische Opposition im Ausland einschüchtern. Der Aufschrei über die Aufdeckung bleibt aus. Schließlich steht Herter, als Mitglied der Mitte-Links Partei SPD, der Redaktion der Sueddeutschen Zeitung deutlich näher, als es ein Mitglied der Freien Wähler tut.
Für Herrn Herter scheint in den Redaktionen zu gelten, was für Herrn Aiwanger nur noch Wunschdenken sein dürfte: im Zweifel für den Angeklagten.
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