Das Paradox von Krieg und Frieden
- Tom David Frey
- vor 2 Tagen
- 5 Min. Lesezeit
Die Geschichte der Menschheit ist auch eine Geschichte des Krieges. Und doch hält sich hartnäckig die Hoffnung auf eine Welt ohne Gewalt, ohne Konflikte und ohne Kriege. Wie realistisch ist dieser Traum?
Ein Essay.

Krieg und die daraus resultierende Gewalt gehen zumeist nicht von Verrückten aus. Auch wenn eine überraschte und vom Frieden verwöhnte Nachkriegsöffentlichkeit das Abschlachten von Menschen gerne per se als das Resultat von Wahnsinn porträtiert, sind es zumeist rational handelnde und emotional fühlende Wesen, die ihre Mitmenschen in Kriege stürzen. Die zu Gewinnern und zu Verlierern werden. Die Helden- und die Gräueltaten begehen und die für Handlungen, für die sie zu friedlichen Zeiten im Gefängnis gelandet wären, mit Orden aus edlen Metallen ausgezeichnet werden – die sie dann nicht selten auch voller Stolz zur Schau tragen.
Weltfrieden als Ziel scheint ein Wunschgedanke zu sein – Tausende Jahre menschlicher Geschichte aber beweisen, dass selbst solche Gesellschaften in Kriege und Konflikte verwickelt werden, die eigentlich nur friedliche Absichten verfolgten. Denn sobald Menschen sich in Kollektiven zusammenfinden, entwickeln sie ein für den Zusammenhalt von Gesellschaften unerlässliches Wir-Gefühl. Was viele gute Seiten hat, was ein friedliches Zusammensein und Miteinander überhaupt erst ermöglicht, ein so notwendiges wie unschuldig erscheinendes „Wir“, mündet letztlich in der Erkenntnis, dass die, die nicht „Wir“ sind, am Ende „die anderen“ sein müssen – die Wurzel von Neid, Missgunst und Eifersucht. Und letzten Endes auch die Wurzel von Krieg und Konflikt.
Auf einem sich ständig verändernden Planeten ist Stillstand die vielleicht einzige Möglichkeit, Frieden zu vereinbaren. Niemand will etwas, das der andere besitzt. Aber Stillstand bleibt – besonders in einer sich immer schneller drehenden Welt, deren Bürger binnen Sekunden über Geschehnisse auf der anderen Seite der Erde informiert werden können – dennoch nur ein ferner ein (Alp)traum.
Selbst ohne böswillige Absicht und ohne irrational agierende Akteure kann eine Gruppe, sei es eine nationale, religiöse oder ideologische, es für notwendig erachten, das eigene Territorium zu verlassen und auf Ressourcensuche in einem anderen Gebiet zu gehen – was fast unweigerlich einen Konflikt mit den dort bereits lebenden Gesellschaften zur Folge hat.
Auch der auf Frieden im Inneren ausgerichtete Ressourcenhunger aufstrebender wie etablierter Mächte begünstigt den wortwörtlichen Kampf – um Mineralien, Metalle, um billige Arbeitskräfte, nicht zu vergessen um Öl – und immer wieder auch um die Quelle allen Lebens, um Wasser.
Eine friedliche Gesellschaft ist auch deswegen nur schwer vorstellbar, weil der Begriff des Friedens weit gedehnt – und brüchig – ist.
Zählt der andauernde Narco-Konflikt, der mehr Tote angehäuft hat als manche die Nachrichten beherrschende Krisenregion, eigentlich schon als Krieg?
Oder bedarf es dafür zwangsweise gegeneinander agierender staatlicher Akteure, wie damals in den Weltkriegen?
Befeuerte oder entschärfte Barack Obama den syrischen Bürgerkrieg – der in seiner Zersplitterung so sinnbildhaft für eine Gefahr steht, die auch über unseren westlichen Gesellschaften schwebt –, als er nach dem Einsatz von Giftgas durch den ehemaligen Diktator Assad von einer größeren militärischen Intervention absah?
Außerdem: Sind Terroristen die eigentlichen Soldaten der Moderne, scheint doch ihre zufällige Barbarei sich über den Globus auszubreiten, wie im vorangegangenen Jahrhundert die Epidemie des Großkonflikts zwischen Nationen?
Und wie werden die großen Militärmächte reagieren, wenn nichtstaatliche Akteure – mit verdeckter Unterstützung eben solcher – gezielt Sabotage begehen? Wenn sie beginnen, Unterseekabel zu kappen, wenn sie Meerengen versperren mit dem Ziel, der globalisierten wie fragilen Welt eine entscheidende Vene abzudrücken? Wie viele Provokationen derer braucht es, die sich vom Wohlstand abgehängt und von der westlichen Vision des Fortschritts vereinnahmt fühlen, um die großen Militärmächte zu einer tatsachenschaffenden Antwort zu drängen?

Der Blick auf Vergangenheit und Zukunft zeigt gleichermaßen: Der Krieg verändert sich ebenso sehr, wie sich die Menschheit verändert. Langsam wird evident, dass große Armeen – hochgerüstet und ein logistisches Meisterwerk bewältigend, abertausende Soldaten kutschierend, eine technische Innovation nach der anderen vorstellend – trotz ihrer noch nie dagewesenen Stärke an ihre Grenzen gelangen.
Von Afghanistan über Vietnam bis in die Ukraine wird ersichtlich, dass asymmetrische gegenüber westlicher Kriegsführung die Oberhand zu gewinnen scheint – auch, weil die Machthaber großer und potenter Armeen nicht dazu bereit scheinen, unter den Augen einer zunehmend wachen wie teilhabenden Weltöffentlichkeit Mittel anzuwenden – obwohl diese vorhanden sind –, die den Gegner auszurotten in der Lage wären.
So absurd es klingt: Auch Kriegsscheue kann Kriege beflügeln und erst möglich machen. Die Verweigerung, in eine potente Abwehr und Abschreckung zu investieren, kann einen Konflikt ebenso schnell eskalieren lassen, ja ressourcenhungrige Machthaber schier einladen, wie eine sich nach oben zuspitzende Aufrüstungsspirale, die von den Beteiligten als existentielle Gefahr angesehen wird.
Solange es die Politik gibt, wird der Krieg immer – um es mit von Clausewitz zu halten – als Fortsetzung eben dieser mit anderen Mitteln parat stehen.
Und doch ist Frieden möglich: Der Kalte Krieg zwischen den damaligen Weltmächten USA und UdSSR blieb nicht etwa deswegen kalt, weil es in beiden Lagern nicht genügend Hardliner gegeben hätte, die sich eine Entscheidungsschlacht herbeisehnten.
Der Kalte Krieg blieb kalt, weil beide Seiten sich mit totaler Vernichtung drohten.
Aber ist ein Frieden wirklich friedlich, wenn er nur deshalb nicht in Gewalt umschlägt, weil beide Seiten sich ihrer Endlichkeit gewiss sind, wenn sie den Abzug drücken?
Und was bedeutet dieser bisher einzigartige Weg hin zu Frieden für die Länder, die Waffen biblischen Ausmaßes (noch) nicht besitzen?
Aber kann echter Weltfrieden – ein Leben ohne Kriege und ohne die Angst vor Eskalation – überhaupt ein wünschenswertes Ziel sein?
Viele der bedeutendsten Fortschritte in Medizin und Technik wurden nicht etwa in Zeiten des Friedens geboren, sondern in Momenten der Eskalation. Aus schierer Not – oft aus existenzieller Bedrohung heraus – setzten Konflikte und Kriege Kräfte frei, die in friedlichen Zeiten kaum mehr als hohle Träume geblieben wären.
Dass selbst die westlich-freiheitliche Demokratie – die einige fälschlicherweise als Synonym für Frieden und Wohlstand verstehen – ohne ein Mindestmaß an Patriotismus gar nicht aufrechtzuerhalten, geschweige denn zu errichten gewesen wäre, ist eine der vielen unbequemen Wahrheiten über Krieg und Frieden. Denn die Grundvoraussetzung für Patriotismus ist und bleibt das unbescholten scheinende "Wir", das ohne ein "und die anderen" nicht auskommt.
Vielleicht braucht die Menschheit den Krieg. Oder zumindest die Kräfte freisetzende Angst vor ihm, um nicht am Ende in einen Stillstand zu geraten, der in Hunger und Krankheit mündet – Gefahren, die am Ende ebenso tödlich sind wie Kugeln.
Das Paradox von Krieg und Frieden.
Disclaimer: Der Text ist ein Essay von Tom David Frey, verfasst im Rahmen einer Studienarbeit, das sich mit den Voraussetzungen, Widersprüchen und Herausforderungen einer dauerhaften Friedensordnung auseinandersetzt. Er wird veröffentlicht, da die darin behandelten Fragestellungen eng mit jenen Themen verbunden sind, die Tom David Frey auch außerhalb des akademischen Kontexts kontinuierlich erforscht: die Natur des Menschen, die Mechanismen gesellschaftlicher Dynamik und die Zerbrechlichkeit globaler Koexistenz.
Ein kluger, interessanter und zum Teil auch verstörender Text, der viele akzeptierte Überlegungen ins Wanken bringt und Zusammenhänge herstellt, die man - vielleicht - so noch nicht gesehen hat. Eine wunderbare Anregung zum Selberdenken.